Friedlich sitze ich ausnahmsweise mal wieder an der Rezeption. In der Fernsehecke sitzen einige Bewohner, alle mehr oder weniger eingeschränkt beweglich. Plötzlich bemerke ich eine Bewegung. Martha! Sie ist aufgestanden und läuft zum Ausgang? Läuft? Na ja! Sie bewegt sich. Die Köchin hat es auch gesehen und eilt dazu. Mit zwei Schutzmasken übereinander. Die „Drecksau“ war im Schwesternzimmer und wird ebenfalls aufmerksam. Schnell ist Martha eingefangen und wird behutsam wieder zum Sofa gebracht. „Drecksau“? Sara ist eine sehr liebe, kompetente und fürsorgliche spanische Pflegerin, die auch Deutsch spricht. Weil Martha nicht mehr selbst essen kann, helfen unsere Pflegekräfte dabei. Eines Tages saß ich am gemeinsamen Mittagstisch, der sich als soziales Kommunikationszentrum bestens bewährt hat, und hörte ein Getöse am Nachbartisch. Martha riss Sara an den Haaren, beschimpfte sie als „Drecksau“ und gebärdete sich recht temperamentvoll. Was war passiert? Sara hatte Martha einen Löffel mit Essen zugereicht und nicht getroffen. Bewegliche Ziele. Es ging etwas auf das Lätzchen. Das geht natürlich bei einer feinen Dame nicht! Und das ist Martha! Vor fast 5 Jahren bekamen wir einen Anruf von der Tochter, die in der Schweiz lebt. Sie war in Sorge um ihre Mutter, die allein in ihrem Haus in Calpe wohnte. Selbst konnte sie gerade nicht kommen. Also fuhren Anastasia und ich mit mulmigen Gefühl los. Wir konnten doch nicht einfach eine alte Frau aus ihrem Haus abtransportieren! Nach einigen Unklarheiten mit der Adresse fanden wir das Haus und eine resolute Dame fragte nach unserem Anliegen. Sie bat uns in Ihr Haus und es ging über eine steile Treppe in einen Wohnbereich, der uns erstaunte, weil er so hell und modern war. Bei Kaffee und Gebäck erklärten wir unser Anliegen. Sie war etwas befremdet, zeigte aber Verständnis. Nach einem guten Gespräch verabschiedeten wir uns und nahmen das Versprechen mit „Sie hören von mir!“ Tatsächlich tauche Martha ca. eine Woche später per Taxi bei uns auf und wollte sich umsehen. Sie sah eine unserer Dachterrassenwohnungen und zog eine Woche später bei uns ein. Seitdem kommt sie nicht einfach daher, sondern sie erscheint. Im Kostüm, Handtasche, oft mit elegantem Hut. Regelmäßige Friseurbesuche sind selbstverständlich. Immer elegant, immer Dame. Jetzt, mit 94, gibt es etwas Durcheinander im Hirn. Sie spricht nicht viel, ist aber oft ansprechbar, meistens weiß sie, was sie will. Immer öfter aber weiß sie nicht, wo, wer und was sie ist. Seit sie bei uns ist, freut sich ihre Tochter wieder über die regelmäßigen Besuche bei ihr. Das Verhältnis ist entspannt und lockerer als je zuvor. Wir jedenfalls respektieren die Dame in ihr.