Im Jahr 1937 verließ ein schmächtiger 14jähriger Junge sein Elternhaus in Frankfurt/Oder, um beim Stadtpfeifer in Guben das Handwerk des Musikers zu erlernen. Stadtpfeifer waren etwa vom 14. Jahrhundert bis in das 20. Jahrhundert für das musikalische Geschehen einer Stadt zuständig. Sie bildeten Lehrlinge in der Beherrschung aller gängigen Instrumente aus und begleiteten mit ihrem Orchester alle Ereignisse, Hochzeiten, Feste usw., in einer Stadt. Erich Wolff, so hieß der Junge, lebte mit den anderen Lehrlingen und Gesellen im Haushalt des Stadtpfeifers und wuchs zu einem stattlichen jungen Mann heran. Für den interessierte sich dann auch die Kriegsmarine und zog ihn ein, um mit seiner Hilfe das Vaterland zu erweitern. Zunächst half er als Marinemusiker, die Moral der Truppe und die Illusionen der Bevölkerung zu stärken. Er spielte bei Paraden, Flottenbesuchen, Aufmärschen und gesellschaftlichen Anlässen und machte, groß, schlank und schwarzhaarig, in seiner dunkelblauen Marineuniform auch bei den Damen eine gute Figur. So kam er auch nach Memel. Die traditionsreiche Stadt im äußersten Nordosten Deutschlands war erst 1939 wieder „heim ins Reich“ gekehrt und ein wichtiger Ostseehafen, in dem sich die Marine natürlich gut präsentieren musste.
In Memel lebte Irmgard Meding. Die Tochter des Klempnermeisters Ernst Meding hatte das Lyzeum („höhere Töchterschule“, heute etwa Realschule) gerade abgeschlossen. Ein Auftritt des Marinemusikkorps war natürlich ein Ereignis und eine Abwechslung in der kleinen Stadt. So begegneten sich die jungen Leute und freundeten sich an. Es ergab sich eine eher harmlose Jugendfreundschaft ohne Perspektive für eine langfristige Beziehung. Der Krieg weitete sich aus. Erich Wolff kam nach Norwegen, wo die vormaligen Musiker als Sanitäter eingesetzt wurden und er in Trondheim und Narvik nicht nur schöne Erfahrungen machte. Aus der anschließenden Kriegsgefangenschaft gelangte er in ein Lager nahe Lübeck, wo die britische Besatzungsmacht die Entlassung der Gefangenen organisierte. Als ehemaliger Soldat hatte er sich nun in seiner Heimatstadt Frankfurt zu melden, das in der Sowietischen Besatzungszone lag. Keine erstrebenswerte Perspektive!
Irmgard Meding war in Memel als Luftwaffenhelferin eingesetzt, wo sie als Funkerin bei der Luftabwehr per Morsezeichen und Sprechfunk Kontakt mit Jagdpiloten zu halten und oft genug deren letzte Worte und Schreie zu verkraften hatte. Auf ihrer anschließenden Flucht verpasste sie die Wilhelm Gustloff und entging durch dieses „Pech“ dem Schicksal des Untergangs. Mit einem Lazarettschiff gelangte sie nach Dänemark, wo sie zunächst interniert wurde. Den Treck von dort nach Deutschland hatte sie als eines ihrer schlimmsten Erlebnisse in Erinnerung. Eine junge Frau Anfang 20, auf sich allein gestellt, in deutscher Luftwaffenuniform, von fremden Menschen bespuckt und geschlagen. So landete sie in Lübeck, wo sie als Heimatvertriebene eine Zuzugsgenehmigung bekam.
Zur damaligen Zeit gab es überall an zentralen Punkten riesige Pinnwände mit unzähligen Zetteln: „Wer kennt ...? - Weiß jemand etwas über den Verbleib von ...? - Wo sind meine Eltern, Geschwister, Kinder usw.?“ Millionen Menschen hatten ihre Angehörigen aus den Augen verloren und suchten nach Hinweisen. Über den Suchdienst des Roten Kreuzes und eben über Zettel an solchen Tafeln. Irmgard Meding wusste, dass ihr älterer Bruder als Pilot einer JU 52 bei Stalingrad abgeschossen worden war und seitdem vermisst wurde. Sie suchte ihre Eltern und ihre kleine Schwester. Auch Erich Wolff wusste nichts über das Schicksal seiner Familie. Vom Tod seines Vaters und seiner kleinen Schwester erfuhr er erst später. Irgendwie kamen die Informationen der Zettel zusammen und die beiden fanden sich in Lübeck. Zwei junge Menschen, die sich lange zuvor nur kurz getroffen und sonst wenig miteinander gemeinsam hatten, konnten sich nun gegenseitig Halt geben. Er, der lockere Musiker, der schon mit 14 Jahren das Elternhaus verlassen hatte, und sie, die behütete Tochter aus „gutem Hause“, deren Eltern seinerzeit wenig erfreut über den Umgang mit einem so wenig standesgemäßen Bekannten gewesen waren.
Nun hatte Erich das Problem, dass er nicht in Lübeck bleiben durfte und weiter nach Frankfurt zu den Russen sollte. Eine Zuzugsgenehmigung nach Lübeck konnte er nur erhalten, wenn er dort Familie hatte. Im November 1946 heirateten Erich Wolff und Irmgard Meding. Damit war das Zuzugsproblem gelöst. Das junge Paar wurde bei einer alten Dame einquartiert, die insgesamt 4 weitere Familien in ihre Wohnung aufnehmen musste. Noch bis ins hohe Alter war das Ehepaar Wolff der alten Dame unendlich dankbar für die Freundlichkeit und die lebensnotwendigen Zuwendungen. Ein besonderes Erinnerungsstück war eine silberfarbene Blechwalnuss, die sie als ersten Weihnachtsschmuck Weihnachten 1946 von ihr geschenkt bekamen. Bis zu ihrem Tod 2017 fand Irmgard Wolff immer ein Plätzchen, um dieses besondere Erinnerungsstück in ihre Weihnachtsdekoration einzubauen. Leider ging es bei der Haushaltsauflösung verloren, nachdem sie kurz nach ihrem 94. Geburtstag gestorben war. Was bleibt, ist die Geste der alten Dame, die Menschlichkeit in einer Zeit bewies, als Unmenschlichkeit Alltag war.